Von Kajo Breuer, Bürgermeister der Landeshauptstadt Saarbrücken a.D. und Mitglied des Vorstandes der Energiewende Saar e.V.
Allein in Deutschland gingen in den vergangenen Wochen und Monaten zigtausende Schülerinnen und Schüler auf die Straße, um für durchgreifende Maßnahmen gegen den Klimawandel zu demonstrieren. Begleitet werden die Aktionen von Kommentaren, Urteilen, Ratschlägen, von Bekundungen der Begeisterung und des Missfallens gleichermaßen. Die Politik schwankt zwischen zynischer Ablehnung, skeptischer Beobachtung, paternalistischem Wohlwollen und parteilicher Vereinnahmung. Gründe und Anlässe genug, sich über die Bewegung und ihre Begleiterscheinungen ein paar Gedanken zu machen.
1. Seit jeher hält die vorangehende die nachfolgende Generation für oberflächlich, geprägt von schlechten Manieren und voller Verachtung für bewährte Autoritäten. Weil dies nun schon seit Jahrhunderten der Fall ist, sollte man eigentlich meinen, dass niemand dies – jedenfalls nach kurzem Nachdenken – als eine ernst zu nehmende Erkenntnis ansieht. Schön wäre es! Über Generationen hinweg machen viele Jugendliche andere Erfahrungen. Der Marburger Soziologe Martin Schröder hat in einer Metaanalyse praktisch alle vorliegenden wissenschaftlichen Schriften, die sich mit dem Thema „Generationen“ beschäftigen, einer kritischen Betrachtung unterworfen und dabei festgestellt, dass die in diesen Veröffentlichungen getroffenen Aussagen über signifikante Unterschiede zwischen den Generationen aufgrund methodischer Mängel in wichtigen Punkten nicht haltbar sind. Die Generationen seien sich ähnlicher als gedacht. Schröder spricht von einem Generationenmythos.
Indes besteht auch in anderer Hinsicht eine mythische Vorstellung über den Charakter von Generationen. Im vergangenen Jahr wurde nach 50 Jahren viel über „die 68er“ geschrieben. Ich habe selbst erlebt, dass 1968 die protestierenden Student/inn/en von den „Altparteien“ und den Medien als „kleine radikale Minderheit“ bezeichnet wurden. Das war abwertend gemeint, aber durchaus zutreffend. Rein quantitativ handelte es sich, gemessen an der Gesamtzahl der Student/inn/en und erst recht an der Gesamtbevölkerung nur um einen sehr geringen Anteil. Dies ist heute nicht anders als in den 60er Jahren. Aber die sogenannte „68er“, eine radikale Minderheit, haben die Gesellschaft erheblich verändert. Wer weiß, vielleicht erzeugt die Bewegung „Fridays for Future“ eine ähnliche Wirkung. In dem Buch „Das rote Jahrzehnt“, das sich mit der Zeit von 1967 und 1977 befasst, schreibt der Autor Gerd Koenen, „eine ganze Serie von Studien und Umfragen seit Anfang der sechziger Jahre (hätten) den einmütigen Befund erhoben, dass von dieser Jugend >>keine gesellschaftsverändernden Impulse zu erwarten seien<< (so Ludwig von Friedeburg 1965) und gerade die Studenten in ihrer großen Mehrheit konformistisch, apolitisch, vergnügungs- und karriereorientiert seien (wie eine Allensbach-Umfrage für den SPIEGEL im Winter 1966/67 feststellte)“. Ludwig von Friedeburg war ein renommierter linker Reformpädagoge der SPD. Spätestens, seit ich diese Zeilen gelesen habe, denke ich immer darüber nach, ob in der Jugend sich etwas versteckt, was man auf ersten Blick nicht entdeckt. Die aktuellen Demonstrationen geben dazu eine aufschlussreiche Antwort.
2. Die Berichterstattung über „Fridays For Future“ bezieht sich zum Teil auf das Anliegen der Kinder und Jugendlichen, zum Teil – und in nicht unerheblichem Umfang – auf den Vorwurf des Schulschwänzens. Es dürfte nicht gar so ungewöhnlich sein, im Rahmen des Faches Biologie die Schule zu verlassen und die „Natur“ in der Natur zu erfahren, z.B. durch eine Wanderung oder durch den Besuch eines Bauernhofes. Statt über die Teilhabe in der Gesellschaft zu diskutieren, dürfte es eigentlich ebenfalls nicht ungewöhnlich sein, dies die Jugendlichen in der Praxis erleben bzw. leben zu lassen. Aber dass dies die Kinder und Jugendlichen für sich selbst entscheiden, ist aus Sicht mancher Bildungsbürokrat(/inn/en, mancher Verbandsvertreter/innen, mancher Lehrer/innen und mancher Eltern nicht hinnehmbar. Es handelt sich auch um eine Frage der Macht: Wer bestimmt darüber, was die Kinder und Jugendlichen tuen? Wo kommen wir denn dahin, wenn die jungen Leute selbst darüber bestimmen, ob sie zur Schule gehen oder nicht? Schulschwänzen ist keine Belanglosigkeit. Einige Studien über die „Karriere“ von Schulschwänzer/innen in ihrem weiteren Leben können einen ziemlich nachdenklich stimmen. Aber mit dem üblichen Schulschwänzen Einzelner ist das derzeitige kollektive Verlassen des Schulunterrichtes nicht wirklich zu vergleichen. Die betroffenen Schulleitungen wissen dies natürlich, aber bei aller gegebenenfalls vorhandenen Sympathie dürften nicht wenige Lehrerinnen und Lehrer mit Grausen daran denken, dass bei nächster Gelegenheit eine/r ihrer Schutzbefohlenen dem Unterricht fernbleibt, dies hernach damit begründet, die Förderung des Gemeinwohls habe dies erforderlich gemacht, die Fridays-Aktionen als Präzedenzfall ins Felde führt und sie als verantwortliche Lehrkräfte darüber in eine Diskussion eintreten müssten statt einfach einen Eintrag ins Klassenbuch vorzunehmen.
3. Wenn eine Bewegung im Entstehen begriffen ist, dann übt dies auf Parteien eine magische Anziehungskraft aus. Das ist auch gut so. Schließlich sollen die Parteien eine Art Transmissionsriemen sein zwischen den Debatten und Entwicklungen in der Gesellschaft einerseits und der Sphäre der Politik und Machtausübung andererseits. In statu nascendi, in ihren Geburtsstunden, wähnen sich viele Bewegungen in einem Zustand der Unschuld. Sie glauben, ganz bei sich zu sein, über ihr Zusammenwirken und ihre Ziele autonom entscheiden zu können. Kaum haben sie den öffentlichen Raum betreten, erweist sich diese Vorstellung als Illusion. Da sind zum Beispiel die Parteien. Ich bin seit Jahrzehnten in einer Partei engagiert und deshalb halte ich es für völlig verfehlt, läppische Schmähreden gegen die Parteien zu führen. Aber ich bin lange genug dabei, um zu wissen, dass die Funktionsträger/innen der Parteien manchmal wie Suchtabhängige agieren. Ich nehme mich selbst überhaupt nicht aus. Indes gibt es in allen Parteien Leute, denen für diese Problematik das Gespür völlig abzugehen scheint.
Zur Veranschaulichung eine kleine Episode: Vor etwa vier Jahren fand auf dem Ludwigsplatz eine Kundgebung gegen rechts statt, zu dem ein breites überparteiliches Bündnis aufgerufen hatte. Zuerst sprach die Saarbrücker Oberbürgermeisterin, von der jede/r weiß, dass sie in der SPD ist, dann sprach die saarländische Wirtschaftsministerin, von der jede/r weiß, dass sie SPD-Mitglied ist, dann sprach noch jemand, von dem ich momentan nicht mehr weiß, wer es war (Peter Gillo?), ebenfalls bekannt als Mitglied der SPD. Alle sagten im Prinzip das Gleiche, was vielleicht überflüssig, aber nicht wirklich schlimm ist. Dann trat noch eine Person an Mikrofon, die welcher Partei angehört? Richtig! Der SPD. Auch die SPD-Landtagsfraktion musste etwas sagen. Das meine ich, wenn ich von einer Suchtabhängigkeit rede. Und wie das bei einer Sucht häufiger vorkommt – oder besser: die Regel ist, verschwendet man keine Gedanken an die Folgen. Alle andere Parteien und Organisationen, außer der SPD, werden, wenn wieder mal ein Aktionsbündnis geschmiedet wird, darauf beharren, dass auch sie das Wort bekommen. Ergebnis: Kundgebungen mit einem halben dutzend Reden (oder mehr), bei denen man verzweifelt und frustriert fragt, wie es dazu kommen konnte. Bestimmt aber wird ein Teil der Sozialdemokrat/inn/en stolz darauf gewesen sein, dass die SPD der Kundgebung auf dem Ludwigsplatz „den Stempel aufgedrückt“ habe. Dieses Beispiel ist beliebig, es gäbe genügend Beispiele in Bezug auf alle anderen Parteien.
4. Zurück zu „Friday For Future“ und zur Sucht der Parteien. Mitte Februar erschien die Samstagsausgabe der Saarbrücker Zeitung mit einem Foto von der „Fridays For Future“-Demonstration, die in Saarlouis stattgefunden hatte, auf der ersten Seite. Das Foto zeigte die Spitze des Demonstrationszuges und in der ersten Reihe marschierte, – es war früher oder später zu befürchten – , mit selbstgefälligem Grinsen ein mittelmäßig bekannter saarländischer Politiker mit nur bescheidener Beliebtheit in der Bevölkerung. Bis dahin hatte man gedacht, es handele sich um eine Demonstration von Schülerinnen und Schülern, welche die Zukunft des Planeten und der Menschheit als gefährdet ansehen. Mit dem Drang eine Politikers in die erste Reihe verwandelte sich eine Demonstration von Jugendlichen in eine Aktion, die parteipolitische Bedeutung erhielt und zwar auf einem Niveau, die dem Ernst und dem Furor der Kinder und Jugendlichen nicht gerecht wird. Ich habe mit einer Reihe von Leuten darüber gesprochen, am Schluss auf der Suche nach überhaupt jemandem, der dies vielleicht nicht eklig finde,- ich habe keinen gefunden, zu deutlich schien es den Betrachter/inne/n des Fotos, dass sich hier jemand in die erste Reihe „wanzt“, wie es hieß, offensichtlich aus dem einzigen Grund, um abgelichtet zu werden.
Mir geht es jedoch weniger um die Person als um den Mechanismus. Bei jedem anderen Parteipolitiker hätte sich das Problem ähnlich gestellt. Was kümmert mich das Selbstverständnis und der Willen der Schüler/innen, wenn ich parteipolitischen Nutzen daraus ziehen kann? Diese Haltung findet man in allen Parteien, nicht gleichermaßen in allen Parteien, nicht gleichermaßen bei allen Mitgliedern der Parteien, nicht gleichermaßen bei allen Funktionsträger/inne/n. Aber man trifft sie so häufig an, dass man einen strukturellen Charakter meint erkennen zu können. Vielleicht sollte man als erstes einmal darüber nachdenken, ob parteipolitische Präsenz dem Anliegen der Demonstrant/inn/en nutzt oder schadet. Möglicherweise wird man diese Frage nur ganz konkret von Fall zu Fall, von Situation zu Situation beantworten können. Zweitens sollte man vielleicht auf die Selbstverständlichkeit kommen, die Organisator/inn/en der Aktionen zu fragen, bevor man mit wehenden Parteifahnen etwas suggeriert, was nicht vorhanden ist. Nach einigem Sinnieren könnte man zu der Auffassung gelangen, dass es sich um ein ähnliches Phänomen handelt wie die „Tags“ bei den Sprayern, die eigentlich nichts anderes bedeuten als „Ich bin ich“, wie der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger vor nicht allzu langer Zeit analysierte, oder „Ich war da“, und dies gleiche, wie manche Menschen behaupten, doch sehr den Hunden, die ums Karree ziehen, um an jeder Ecke ihr Zeichen zu setzen.
5. Meines Erachtens wäre es verkürzt zu denken, dass sich Parteien nur aus eigensüchtigen Motiven bei den Demonstrationen zeigen. In verschiedenen Parteien wird der Wunsch groß sein, die Schülerinnen und Schüler in Ihren Anliegen tatkräftig zu unterstützen, – dies wurde mir in Gesprächen häufig versichert. Gleiches konnte man beispielsweise von Eltern und Großeltern hören. Deshalb entscheiden manche für sich selber, an den Demonstrationen teilzunehmen. Ich respektiere diese Haltung, aber ich muss gestehen, dass sie mich nicht überzeugt. Was dabei nämlich nicht bedacht wird: „Fridays For Future“ haben eine faszinierende Ausstrahlung nicht nur, weil sie sich zu einer inzwischen internationalen Bewegung entwickelt haben, sondern auch und vor allem, weil diese Bewegung getragen wird von Jugendlichen und Kindern in ihrer eigenen Lebendigkeit und Radikalität. Als Greta Thunberg beim Weltwirtschaftsforum in Davos auf die von oben herab gestellte Frage, was sie denn alles ändern wolle, antwortete: „Alles“, war die Reaktion der versammelten Polittechnokraten allgemeine Belustigung, sie sind gewohnt, die Lösung in Zahlen zu finden. Aber die 16-jährige hatte instinktiv, wie ich finde, die angemessene Antwort gegeben. Der eigentümliche Charme der Demonstrationen rührt gerade aus der Tatsache, dass es sich um junge Menschen handelt, die ihre eigene Art haben, ihre Ziele zu benennen und ihrem Willen Ausdruck zu verleihen. Und diese unterscheidet sich von anderen Demonstrationen. Wenn also Erwachsene teilnehmen, werden sich diese Aktionen verändern. Bestimmt wird es Eltern geben, die behaupten, ihre Kinder würden sich durch ihre Anwesenheit in ihrer Spontaneität nicht einschränken lassen, dies jedoch glaube ich keine Sekunde, Lehrer/innen werden Ähnliches äußern, dies glaube ich genauso wenig. Das, was sie unterstützen wollen, werden, so meine „steile These“, diese Erwachsenen voller Wohlwollen bis zur Unkenntlichkeit verändern. Eine andere Sache ist es, wenn sich zum Beispiel Wissenschaftler/innen überlegen, wie sie auf ihre Weise das Anliegen der Schüler/innen unterstützen können, Stellungnahmen verfassen oder – einer Einladung folgend – auf einer Kundgebung sprechen.
6. Möglicherweise wird die Bewegung „Fridays For Future“ dazu beitragen, dass der Kampf gegen den Klimawandel und für ein ökologisch verträgliches Leben in ein neues Stadium eintritt. Dann wird sich auf die Frage des angemessenen Umgangs mit ihr ganz anders stellen. Die „Fridays“ werden nach meiner Einschätzung nicht lange in dieser Form weitergehen (können). Dies hat mit dem Schulschwänzen zu tun, aber auch mit den Mechanismen einer solchen Bewegung. Wir alle kennen die deprimierenden Überbleibsel von Montagsdemonstrationen und Ostermärschen. Bevor also die „Fridays-Demos“ verblassen und versickern, werden sich, so vermute ich, die Aktivist/innen wahrscheinlich ohnehin neue Formen demonstrativer Äußerungen von Schülerinnen und Schülern überlegen. Dies aber ist nach meiner Überzeugung zunächst und vor allem deren Angelegenheit.
7. Im Übrigen kann man bekanntlich das eine tun, ohne das andere zu lassen. Zehntausende Schülerinnen und Schüler haben zu Unterrichtszeiten ihre Demonstrationen durchgeführt, Zehntausende jeglichen Alters haben am ersten Dezemberwochenende gegen Kohlekraftwerke und für Klimaschutz demonstriert, Zig mal wurde gegen Cattenom demonstriert usw.usf. Es brauchen nicht immer alle alles zu machen. Und es brauchen ebenfalls nicht alle bei allem mitzumachen. Jede Bewegung weist – aus guten Gründen – viele Facetten auf und umfasst unterschiedliche Gruppierungen, die etwas Eigenes in die Bewegung einbringen und eventuell aufrechterhalten möchten. Dies sollte man meines Erachtens immer im Blick haben, aus Respekt und aus politischer Klugheit.
Saarbrücken, 4. April 2019